Traumasensible Behandlung

Mindestens die Hälfte aller Menschen mit Sucht- und anderen psychischen Erkrankungen war bereits in frühen Lebensphasen traumatischen Erfahrungen ausgesetzt. Allerdings wird dies in weiten Teilen des Hilfesystems nicht systematisch berücksichtigt. Dies kann offensichtlich dazu führen, dass posttraumatische Symptome nicht erkannt werden und Betroffene nicht die Unterstützung erhalten, die angemessen und notwendig wäre, um die Folgen traumatischer Erfahrungen zu bewältigen. Nicht selten zählen Betroffene aus Sicht der Therapeuten zu den „schwierigen“ Patienten, „fallen durch die Maschen“, oder werden zu „Drehtürpatienten“. Aufgrund dieser Zusammenhänge wurde in den letzten Jahren verstärkt gefordert, dass psychosoziale Behandlungsangebote unabhängig vom jeweiligen Versorgungsauftrag „traumasensibel“ gestaltet werden müssen.

Was bedeutet „Traumasensible Behandlung“?

„Traumasensible Behandlung“ bedeutet nicht, dass spezielle Angebote für posttraumatische Beschwerden vorgehalten werden müssen. Mit traumasensibler Behandlung ist vielmehr gemeint, unabhängig von der primären Versorgungsaufgabe der Einrichtung, z.B. als Suchtberatungsstelle, psychiatrische Akutstation oder Rehabilitationseinrichtung, wesentliche Grundprinzipien des Umganges mit traumatisierten Personen zu berücksichtigen und so dafür zu sorgen, dass die Angebote besser an die Bedürfnisse eines Großteils der Nutzerinnen und Nutzer angepasst werden. Dies setzt zunächst ein angemessenes Verständnis von den Auswirkungen traumatischer Erfahrungen voraus. Gerade frühe und wiederholte Traumatisierungen haben oft nachhaltige Folgen und können die Sicht der Betroffenen von sich selbst, anderen Menschen und der Welt beeinflussen. Dementsprechend würde es zu kurz greifen, den Blick lediglich auf abgrenzbare „posttraumatische Symptome“ zu richten. Entscheidend ist vielmehr, ein Verständnis dafür zu entwickeln, welchen prägenden Charakter traumatische Erfahrungen für spätere Lebensentscheidungen, die Entwicklung von Bewältigungsstrategien und nicht zuletzt das aktuelle Erleben haben können. Ausgehend von diesem Verständnis ist es das Ziel traumasensibler Behandlung, traumatische Erfahrungen systematisch zu berücksichtigen und in allen Abschnitten der Behandlung den „größtmöglichen Kontrast zur traumatischen Situation“ herzustellen.

Gesprächsangebote und Informationen zu Traumafolgen

Eine wichtiges Element traumasensibler Behandlungsangebote sind systematische Gesprächsangebote zu traumatischen Erfahrungen. Dabei wirkt sich die Diagnostik von Traumatisierungen und ihren Folgen per se schon förderlich auf eine „traumasensible Kultur“ aus. Mitarbeiter behalten Traumatisierungen im Blick und Betroffene erhalten die Botschaft, dass die Einrichtung ein Ort ist, an dem ihre Erfahrungen ernst genommen und nicht tabuisiert werden. Aktive Gesprächsangebote zu Traumatisierungen sind auch deshalb notwendig, da Betroffene aus Scham oder weil sie damit schlechte Erfahrungen machen mussten, diese oft nicht von sich aus berichten. Andererseits sprechen auch Therapeutinnen und Therapeuten traumatische Erfahrungen oft nicht an, unter anderem da sie sich nicht selten unsicher im Hinblick auf den Umgang mit den Berichten und möglichen Reaktionen fühlen. Oft wird befürchtet, dass sich die Befindlichkeit Betroffener weiter verschlechtern könne, wenn sie auf Traumatisierungen angesprochen werden. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass diese Befürchtungen – wenn wichtige Prinzipien der Diagnostik traumatischer Erfahrungen beachtet werden – zumeist unbegründet sind. Im Gegenteil kann die Rekonstruktion traumatischer Erfahrungen einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung Betroffener leisten, wenn unverständliche Erlebensweisen dadurch einen realen und verständlichen Bezug bekommen. Menschen mit komplexen Traumatisierungen in der Vorgeschichte empfinden ihr Leben häufig als chaotisch und unkontrollierbar. Aus der „Traumaperspektive“ gesehen kann es Betroffenen besser gelingen, die eigenen Verhaltens- und Erlebensweisen zu verstehen und langfristig ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass es möglich sein kann, Kontrolle über ihr Leben zurück zu erlangen. Dabei ist es wichtig, den Sinn der Symptome im Kontext der Lebensgeschichte und ihre Funktion als Bewältigungsversuch und Schutz zu würdigen. Informationen zu häufigen Reaktionen auf traumatische Erfahrungen und die Würdigung dieser Bewältigungsversuche kann Betroffenen ein neues Verständnis von den eigenen Problemen ermöglichen und sie zugleich ermutigen, langfristig günstigeren Bewältigungsstrategien zu erwerben. Wichtig ist in jedem Fall, wesentliche Grundprinzipien im Rahmen der Diagnostik zu beachten, zu deren Vertiefung entsprechende Weiterbildungen einen sinnvollen Beitrag leisten. So sollten Betroffene im Rahmen der Gesprächsangebote ermutigt werden sich anzuvertrauen, aber ein Höchstmaß an Kontrolle darüber behalten, inwieweit sie sich mitteilen möchten. In jedem Fall muss sichergestellt werden, dass den Berichten auch Angebote oder zumindest ein gemeinsames Nachdenken darüber folgt, wie Traumatisierungen im weiteren Therapieverlauf berücksichtigt werden könnten. Dazu sollten basale Kenntnisse über unterstützende und stabilisierende Maßnahmen, sowie über mögliche Hilfsangebote vorhanden sein.

Die eigenen Strukturen und Abläufe überprüfen

Traumatische Erfahrungen sind typischer Weise davon geprägt, dass die Opfer manipuliert werden, machtlos und völlig ausgeliefert sind. Dementsprechend benötigen Betroffene in allen Phasen der Behandlung ein Höchstmaß an Sicherheit, Autonomie und Kontrolle. Selbst wenn Anstrengungen unternommen werden, Therapieentscheidungen partnerschaftlich zu treffen, erleben Patientinnen und Patienten therapeutische Beziehungen häufig als hierarchisch und erfahren abhängig vom jeweiligen Setting eine mehr oder weniger starke Einschränkungen ihrer Autonomie. Besonders augenfällig ist dies im stationären Bereich, wo Patienten häufig nicht mehr alleine entscheiden können, wann sie schlafen, essen oder Besuch empfangen. Zahlreiche strukturelle Aspekte, wie mangelnde Rückzugsmöglichkeiten, oder Routinen im Rahmen der Behandlung, wie „Filzen“ und medizinische Untersuchung, können Gefühle von Unsicherheit und Ausgeliefertsein hervorrufen. Ein weiteres wichtiges Element traumasensibler Therapie ist deshalb, die eigenen Strukturen und Arbeitsabläufe daraufhin zu überprüfen, wie viel Sicherheit und Autonomie sie vermitteln. Dazu kann beitragen, (noch) explizit(er) zur Übernahme von Eigenverantwortung bei Therapieentscheidungen zu ermutigen oder Grenzsetzungen und Rückzug im therapeutischen Setting besser zu ermöglichen. Auslösereize, die zu negativen emotionalen Reaktionen führen, sollten mit Betroffenen identifiziert, einfache Stabilisierungs- und Beruhigungstechniken vermittelt werden. Weiter muss die Gefahr potenzieller Retraumatisierungen konsequent minimiert werden. Besonders offensichtlich drohen diese, wenn im Rahmen der Behandlung Gewalt ausgeübt wird, etwa bei Zwangseinweisungen, Fixierungen oder Zwangsmedikationen. Aber auch in subtilerer Weise wiederholen sich im Rahmen der Behandlung Muster, die sexuell missbrauchte oder körperlich misshandelte Personen oft in früheren traumatischen Situationen durchleben mussten. Dazu zählt das grundsätzliche Ungleichgewicht an Macht und Information zwischen Therapeut und Patient, das Ignorieren von dessen Bedürfnissen, oder die nicht mit den eigenen Empfindungen übereinstimmende, von anderen Menschen definierte Realität.

Weiterbildungen zum Thema „Traumasensible Behandlung“

Weiterbildungstermine entnehmen Sie bitte unserem Veranstaltungskalender
Weiter bieten wir auch Team-Schulungen zum Thema „Traumasensible Behandlung “ an. Nehmen Sie bei Interesse bitte Kontakt zu uns auf.

Weiterführende Literatur

  • Harris M, Fallot RD (2001) Using trauma theory to design service systems. Jossey-Bass: San Francisco.
  • Read J, Hammersley P, Rudegeair T (2007) Why, when and how to ask about childhood abuse. Advances in Psychiatric Treatment 13: 101-110.
  • Rosenberg SD, Mueser KT, et al. (2001): Developing effective treatments for posttraumatic stress disorder among people with severe mental illness. Psychiatric Services 52: 1453-1461.