Therapie „Sicherheit finden“

1. Was ist „Sicherheit finden“?

„Sicherheit finden“ ist ein kognitiv-behaviorales Therapieprogramm für Personen mit Substanzbezogenen Störungen, die an den Folgen traumatischer Erfahrungen leiden. Es wurde ursprünglich für Personen mit der Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entwickelt, ist aber genauso für Personen geeignet, die keine formale PTBS-Diagnose erfüllen, sondern an anderen, oft komplexen Folgen von Traumatisierungen leiden. Es handelt sich um ein integratives Therapieverfahren, das sowohl Suchtproblematik als auch Traumafolgen, sowie Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen behandelt, um so einen bestmöglichen Behandlungserfolg erzielen zu können. Das Therapieprogramm wurde von Lisa Najavits an der Universität Harvard entwickelt und wird seit vielen Jahren erfolgreich eingesetzt. Die deutsche Übersetzung des Programmes ist im Hogrefe Verlag erschienen.

„Sicherheit finden“ verfolgt einen ressourcen-orientierten, stabilisierenden Ansatz. Das bedeutet, dass Traumatisierungen nicht im Detail besprochen und durchgearbeitet werden. Ziel der Behandlung ist es, die Folgen dieser Erfahrungen besser zu verstehen und „sichere Bewältigungsstrategien“ zu erlernen, die es ermöglichen auf Substanzkonsum und andere „unsichere“ Verhaltensweisen zu verzichten. Das Programm kann jedoch mit expositionsbasierten Therapien kombiniert werden oder als Vorbereitung dafür dienen. Darüber hinaus kann „Sicherheit finden“ nicht nur als Gruppen-, sondern auch als Einzeltherapie eingesetzt und in diesem Fall mit Expositionselementen kombiniert werden.

„Sicherheit finden“ baut auf fünf grundlegenden Prinzipien auf:

  1. „Sicherheit“ als das übergeordnete Ziel
  2. Integrierte Behandlung von Substanzmissbrauch und Posttraumatischen Störungen
  3. Ein Schwerpunkt auf Idealen und Zielen
  4. Vier inhaltliche Bereiche Kognitionen, Verhalten, interpersonelle Aspekte und Case Management
  5. Starke Berücksichtigung von Therapieprozessen und therapeutischer Haltung.

Ein besonderes Merkmal von „Sicherheit finden“ ist die starke Betonung humanistischer Themen und „Ideale“. Den thematischen Schwerpunkt vieler Sitzungen bilden Werte wie „Verbindlichkeit“, „Anteilnahme“ und „Ehrlichkeit“ und im Sprachgebrauch des Programms haben Begriffe wie „Respekt“, „Heilung“ und „Achtsamkeit“ ihren festen Platz. Hintergrund dessen ist, dass sowohl Traumatisierungen als auch Sucht und besonders deren Kombination häufig zu einer veränderten Sicht von der Welt, zu Resignation und dem Verlust von „Idealen“ führen. Die Auseinandersetzung mit grundlegenden Werten und „Idealen“ soll auf ihre Weise dazu beitragen, Betroffene zu motivieren und ihnen einen sorgsameren Umgang mit sich selbst nahe zu bringen.

2. Welche Ausbildung ist nötig um „Sicherheit finden“ durchzuführen?

Ein Vorteil von „Sicherheit finden“ ist, dass aufgrund des vorwiegend stabilisierenden Ansatzes keine spezielle Traumatherapie-Ausbildung oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe die Vorausetzung dafür ist, die Therapie durchzuführen. Allerdings sollten bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein um das Therapieprogramm sicher einsetzen zu können. So sollten umfassende therapeutische Erfahrungen, bei Suchtkranken vorhanden sein. Zudem sollte eine profunde Weiterbildung zum Umgang mit traumatisierten Menschen und zur Durchführung des Therapieprogramms absolviert werden. Weiter ist eine Inter- bzw. Supervision durch traumatherapeutisch tätige Kollegen empfehlenswert.

3. Warum heißt das Therapieprogramm „Sicherheit finden“?

Übergeordnetes Ziel ist es, dass die Betroffenen „Sicherheit“ für sich herstellen. Damit sind Veränderungen in verschiedenen Bereichen gemeint, die bei Patienten mit der Doppeldiagnose von Substanzbezogener Störung und Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) bzw. anderen Traumafolgen häufig besonders schwere Probleme aufwerfen. Dies kann exzessiven Suchtmittelkonsum, Beziehungen, die zu weiterer Exposition gegenüber Gewalt und zu weiterem Substanzmissbrauch beitragen, Suizidalität oder andere schwerwiegende Symptome betreffen (z.B. „Flashbacks“, Dissoziation und selbstverletzendes Verhalten). Ziel dieser Veränderungen sind beispielsweise Entwicklung und Aufbau folgender Fähigkeiten:

  • Bewältigung von posttraumatischen Symptomen (z.B. Flashbacks und Dissoziation)
  • Beendigung des Substanzkonsums
  • Bessere Selbstfürsorge (z.B. gesunde Ernährung, regelmäßig zum Arzt gehen)
  • Stärkung von Kontakten zu verlässlichen, unterstützenden Personen
  • Befreiung aus häuslicher Gewalt oder Missbrauch
  • Beendigung von selbstschädigendem Verhalten (z.B. Schneiden, ungeschützter Geschlechtsverkehr)

Vielen Betroffenen fällt es schwer, sich selbst wertzuschätzen, besonders wenn Trauma und Sucht schon lange bestehen. Ein wichtiges Ziel der Behandlung besteht deshalb darin, sich selbst zu verstehen, zu respektieren, und eine neue Identität zu entwickeln, als eine Person die ihr Leben besser meistern kann.

Um diese Ziele zu erreichen werden psychoedukative Element eingesetzt und „sichere Bewältigungsstrategien“ erlernt. Neben eigenen Denk- und Verhaltensweisen erstrecken sich die Interventionen dabei insbesondere auf den interpersonellen Bereich, aber auch weitere Lebensbereiche, die durch beide Störungen gleichermaßen beeinträchtigt werden.

4. Welche Themen werden bei „Sicherheit finden“ behandelt?

Das Therapieprogramm umfasst 25 Themenbereiche, die jeweils die Grundlage für eine Sitzung bilden. Dabei berücksichtigen die Themenbereiche zu gleichen Anteilen kognitive (z.B. „Heilsames Denken“), verhaltensbezogene (z.B. „Umgang mit Wut“) und interpersonelle Aspekte (z.B. „Grenzen setzen in Beziehungen“). Die Auswahl der Themen kann flexibel gestaltet werden: Je nach Setting und zeitlichen Rahmenbedingungen können Themenbereiche in einer oder mehreren Sitzungen behandelt werden. Jedes Thema verfolgt dabei das Ziel, sowohl Strategien zum Umgang mit der Sucht, als auch Strategien zum Umgang mit den Traumafolgen zu entwickeln. Im Einzelnen umfasst das Programm folgende Themenbereiche:

Einführung in die Behandlung/ Case Management Sich Bedeutungen erschließen
Sicherheit Unterstützungsangebote
PTBS: Die eigene Stärke zurückgewinnen Grenzen setzen in Beziehungen
Distanzierung von emotionalem Schmerz (Erdung) Entdeckungsreise
Wenn Substanzen Sie beherrschen Andere dazu bringen, Ihre Genesung zu unterstützen
Um Hilfe Bitten Umgang mit Auslösern
Gut für sich sorgen Würdigung der eigenen Zeit
Mitgefühl Gesunde Beziehungen
Rote und grüne Signale Sich eine Freude machen
Ehrlichkeit Heilung von Wut
Heilsames Denken Das „Spiel der Lebensentscheidungen“
Die innere Spaltung überwinden Abschluß
Verbindlichkeit

In den Therapeutenmaterialien wird zu jedem Bereich ein theoretischer Hintergrund geschaffen und Strategien zur Gestaltung der Sitzung an die Hand geben. Daneben finden sich Abschnitte zu möglichen Problemen im therapeutischen Prozess. Die jeweiligen Patientenmaterialien fassen wichtige Aspekte der Sitzung zusammen und enthalten Vorschläge für sog. „Selbstverpflichtungen“ (eine selbst gewählte Aufgabe bis zur nächsten Sitzung). Die Themenbereiche bauen nicht zwingend aufeinander auf. Sie sind untereinander austauschbar und können den individuellen Bedürfnissen der Gruppe angepasst werden.

5. Wie laufen die Sitzungen ab?

Das Programm sieht vier Abschnitte für jede Sitzung vor. Zu Beginn findet eine Eingangsrunde statt. Jedes Mitglied erhält einige Minuten Zeit um zu berichten

(1) wie es sich fühlt,
(2) welche Bewältigungsstrategien es seit der letzten Sitzung anwenden konnte,
(3) wie sein Substanzgebrauch und weitere „Risikoverhaltensweisen“ sich seit der letzten Sitzung entwickelt haben,
(4) ob es seine „Selbstverpflichtung“ eingehalten hat und
(5) wie der Stand im Hinblick auf weitere therapeutische Unterstützung oder komplementäre Angebote ist.

Der nächste Abschnitt eines jeden Treffens besteht in einem Zitat, das inhaltlichen Bezug zum Thema der Sitzung hat. Es wird von einem Mitglied der Gruppe laut vorgelesen und soll den Einstieg in die Thematik erleichtern.

Im Hauptabschnitt der Sitzung, der etwa 30-40 Minuten in Anspruch nimmt, erhalten die Patienten/-innen Materialien, die wichtige Stichpunkte des Themas zusammenfassen. Die Inhalte werden mit den individuellen Erfahrungen der Patienten/-innen verknüpft und diskutiert. Die „sicheren Bewältigungsstrategien“, die in jedem Themenkomplex enthalten sind, können anhand verschiedener Techniken, etwa durch Rollenspiele, weiter vertieft werden.

In einer Abschlussrunde wird schließlich jedes Gruppenmitglied gebeten

(1) eine Sache zu benennen, die es aus der Sitzung mitnehmen konnte und
(2) eine neue „Selbstverpflichtung“ bis zur nächsten Sitzung zu treffen.

Natürlich kann es passieren, dass ein Gruppenmitglied an einer Sitzung nicht teilnehmen kann. Die Arbeitsmaterialien können in diesem Fall auch selbst zuhause bearbeitet werden, um Teile des Versäumten nachzuholen.

Haben die Betroffenen Gelegenheit, über ihr Trauma zu sprechen?

Grundsätzlich gilt, dass in der Gruppe nicht das Trauma, sondern dessen Folgen für das gegenwärtige Leben der Betroffenen thematisiert wird. Diese Regel gilt besonders dann, wenn „Sicherheit finden“ als Gruppentherapie durchgeführt wird. Für Betroffene ist es oftmals schwierig über die Vergangenheit zu sprechen und die dann auftretenden Gefühle und Erinnerungen können schwer zu beherrschen sein. Durch Berichte von Traumatisierungen können andere Gruppenmitglieder aus dem Gleichgewicht gebracht und „sekundär traumatisiert“ werden.

Anhand des Therapieprogramms soll zunächst mehr Stabilität erlangt und Strategien erlernt werden, um mit intensiven negativen Gefühlen umgehen zu können. Ob es darüber hinaus sinnvoll ist, in weiterführenden Therapien ausführlicher über traumatische Ereignisse zu sprechen, sollte individuell bedacht und entschieden werden. Generell empfiehlt es sich „Sicherheit finden“ nicht als alleiniges Therapieangebot wahrzunehmen, sondern gleichzeitig Einzelkontakte in einer geeigneten Beratungs- oder Therapieeinrichtung wahrzunehmen. Dies bietet den Vorteil bei evtl. auftretenden Schwierigkeiten einen direkten Ansprechpartner zu haben und (falls sinnvoll) auch stärker belastende Themen detaillierter besprechen zu können.

6. Ist Abstinenz eine Voraussetzung für die Therapie?

Abstinenz stellt oft die Voraussetzung für die Teilnahmen an Therapien dar. Für Personen mit traumatischen Erfahrungen, die Substanzkonsum oft als Bewältigungsstrategie nutzen, kann es jedoch zunächst schwer sein, abstinent zu werden und zu bleiben. „Sicherheit finden“ ist deshalb so konzipiert, dass aktueller Substanzkonsum nicht automatisch ein Ausschlusskriterium sein muss, es sei denn, dies wurde von der durchführenden Einrichtung so festgelegt. In keinem Fall ist es sinnvoll, dass Teilnehmer/-innen intoxikiert an Sitzungen teilnehmen und es ist grundsätzlich ein Ziel der Behandlung, abstinent zu werden. Die Betroffenen sollen besser verstehen, wodurch ihre Entscheidungen beeinflusst werden und Erlernen, andere Strategien zu wählen. Um klare Rahmenbedingungen für die Behandlung zu schaffen empfiehlt es sich, diese in einer individuellen Therapievereinbarung festzulegen. Diese kann die Möglichkeit von Urin- oder Atemalkoholkontrollen beinhalten, den Umgang mit Krisen, oder die Regel, dass Teilnehmer/-innen die Therapie nicht fortsetzen können, wenn sie eine Gefahr für die Therapeuten oder andere Patienten darstellen (z.B. Androhung von Gewalt, Verkauf von Drogen).

7. Für welche Settings ist „Sicherheit finden“ geeignet?

„Sicherheit finden“ kann in einer Vielzahl verschiedener Varianten durchgeführt werden, die geschlechtsspezifische und gemischte, (halb-)offene und geschlossene Gruppen, 50- oder 90minütige Sitzungen, wöchentliche oder häufigere Treffen, sowie die Durchführung im ambulanten, stationären und teilstationären Rahmen umfassen. Neben dem Gruppenformat kann „Sicherheit finden“ auch für die Einzeltherapie oder im Selbsthilfe-Format genutzt werden.

Eine hohe Flexibilität besteht insbesondere im Hinblick auf die Anzahl und Frequenz der Sitzungen. So können, wenn nur eine begrenzte Stundenzahl zur Verfügung steht, einzelne wichtige Themenbereiche ausgewählt und auch unabhängig vom restlichen Programm bearbeitet werden. Wenn mehr Zeit zur Verfügung steht, bzw. 25 Sitzungen zu kurz erscheinen, bietet das Programm die Möglichkeit, die Therapie auszudehnen und besonders relevant erscheinenden Inhalten mehr Zeit zu widmen. Je nach den zur Verfügung stehenden Ressourcen bzw. den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten können die Sitzungen einmal wöchentlich oder auch häufiger durchgeführt werden.

Auch inhaltlich kann und soll das Programm an die Bedürfnisse verschiedener Patientengruppen mit der Doppeldiagnose posttraumatischer Störungen und Sucht angepasst werden. So kann es z.B. sinnvoll erscheinen, die deutsche Version von „Sicherheit finden“ oder einzelne Module für die Behandlung jugendlicher, inhaftierter oder HIV-infizierter Patienten zu modifizieren oder die Arbeitsmaterialien zu ergänzen. Wir unterstützen entsprechende Bemühungen ausdrücklich, bitte nehmen Sie in diesem Fall gerne Kontakt zu uns auf. Auch die Originalversion von „Sicherheit finden“ wurde in den USA bereits bei einer Vielzahl unterschiedlicher Zielgruppen erprobt und seine Durchführbarkeit bzw. Wirksamkeit in zahlreichen Studien zum Therapieprogramm belegt.